Ein etwas anderer Kerker
Im alten China, im ersten Jahrhundert, wurde ein Übeltäter ertappt, als er eben den Kaiserpalast ausrauben wollte. Man verurteilte ihn zu zwanzig Tagen Kerker. Der Kerker war jedoch, wie sich zeigte, kein gewöhnliches Gefängnis. Er bestand aus weissen Vierecken, die auf den nackten Boden gemalt waren.
Man führte den Räuber in die Mitte eines der gemalten Vierecke. Nur ein einziger anderer Mensch befand sich dort im angrenzenden Viereck: ein alter Mann mit langem Bart.
Der Räuber fragte: „Was ist denn das für ein Kerker?“
Der alte Mann sagte: „Der schlimmste, den es gibt auf der Welt. Sollte ein Gefangener je seine Linien überschreiten, so kommen alle Dämonen der Hölle und verschlingen ihn.“
Der Räuber war entsetzt und verharrte die vollen zwanzig Tage innerhalb der gemalten Striche. Nach Ablauf der Frist trat der alte Mann aus seinem Viereck heraus.
Der Räuber fragte: „Warum wirst Du nicht von den höllischen Dämonen aufgefressen?“
Der alte Mann antwortete: „Ich bin kein Gefangener. Ich bin der Wärter.“
(aus: Nury Vittachi, Shanghai Dinner)