Über die Vergänglichkeit

Über die Vergänglichkeit

 

Buddha III

In alter Zeit betrübte sich eine nachdenkliche Nonne über die Vergänglichkeit des Lebens.
Sie sagte zu ihrem Lehrer: „Alles vergeht. Der heutige Tag zog in Schönheit herauf, doch am Abend wird er versinken. Das Leben ist nur ein Atemzug. Der Mensch wird zum Sterben geboren. Welchen Wert hat das Dasein?“
Der Lehrer antwortete der Nonne: „Frage den Schmetterling. Frage die Kerze. Frage den Wassertropfen.“
Die Nonne ging zu einem heiligen Barnabaum. Seine weißen Blüten lockten Schmetterlinge an. Sie schaute zu und sah, dass jeder Schmetterling nur einen Tag lebte.
Die Nonne ging in den Tempel. Sie betrachtete die Kerzen vor dem Buddhaschrein. Sie sah, dass jede Kerze nach einer Stunde erlosch.
Die Nonne ging zu einem Fluss. Sie erkannte, dass er Millionen Wassertropfen mit sich führte. Sie sah, wie sie schneller, als man einen Becher Tee leeren konnte, an der Stadt vorbeiflossen, um niemals wiederzukehren.
Die Nonne ging zurück in das Lehrhaus. Sie sagte: „Das Leben vergeht wie ein Schmetterling im heiligen Barnabaum.“
Der Gärtner hörte sie und sagte: „Nein. Die Schmetterlinge erhalten die Pflanzen am Leben. Der Barnabaum ist älter als du. Er lebt seit hundert Jahren.“
Sie sagte: „Das Leben ist vergänglich wie die Kerzen im Tempel.“
Der Priester hörte sie und sagte: „Nein. Die Flamme im Tempel brennt schon lange. Sie brennt seit tausend Jahren.“
Sie sagte: „Das Leben vergeht wie Wassertropfen im Fluss, der an der Stadt vorüberfließt.“
Ein alter Fährmann hörte sie und sagte: „Nein. Der Fluss ist seit zehntausend Jahren da. Er wird noch in zehntausend Jahren da sein.“

So geht es auch uns, Grashalm. Manche sehen den Schmetterling, die Kerze und den Wassertropfen. Manche sehen den Baum, die Flamme und den Fluss.

(aus: Nury Vittachi, Der Fengshui-Detektiv und der Computertiger)

4 Gedanken zu „Über die Vergänglichkeit

  1. Du hast hier wirklich einen sehr netten und trefflichen, kleinen Bericht abgeliefert, der leider die Masse nicht mal annähernd berührt.
    Gut, natürlich ist jeder Mensch ein Unikum, hat eigene Gedanken und gestaltet sein Leben nach meistens nur materiellen Vorstellungen.
    Eine Erfahrung, wie die der Nonne, sollte jedem mal widerfahren, um die wahren Werte des eigenen Daseins wertschätzen zu können. Die vielen kleinen Dinge des einfachen Lebens werfen täglich unendlich viele Fragen auf, die nach Antworten suchen.
    Die Art und Weise, die Du hier beschrieben hast, könnte ein Anfang sein, so man denn überhaupt gewillt wäre, zu verstehen.
    Leider aber wird die Menschheit sich niemals von den ihnen bekannten eingefahrenen Riten und Glaubensbekenntnissen trennen, um zumindest hin und wieder einen Versuch zu wagen, die Welt mit anderen Augen zu betrachten.
    Der Buddhismus mit seiner inneren Ruhe, Kraft und Verständlichkeit könnte ein anfänglicher Weg des Verständnisses untereinander und dem Begreifen dieser Welt sein.
    Klar, Wunschvorstellungen kommen manchen Träumen sehr nahe und sind kaum erfüllbar.
    Dennoch kann ein richtiger gelebter Glaube schon manchmal wenigstens kleine Berge versetzten.
    Aber leider ist und bleibt das gefährlichste Raubtier auf Erden, der Mensch.
    Sokrates sagte: „Sei, was Du scheinen willst.“
    Ich sage: „tue, was zu tun ist.!
    Kvelli

  2. Ein Buddhismusanhänger? Seit ich die buddhistische Lebensweise kennengelernt habe, bin ich ein absoluter Anhänger dieser Einstellung. Viel hat mich daran verwundert, aber noch mehr beeindruckt.

  3. Liebe Abraxandria,

    wer könnte umsetzen? Da ist niemand, der das könnte.

    Das zu sehen ist genug.

    Buddha sagte: „Handlungen geschehen, doch es gibt keinen Handelnden.“ – Den gibt es so wenig wie einen Umsetzenden.

    Was die kleine Geschichte anbelangt: Schmetterling, Kerze und Wassertropfen sind so vergänglich wie der Baum, die Flamme und der Fluss. Letztere lassen sich nur ein wenig mehr Zeit mit ihrer Vergänglichkeit.

    Gibt es etwas, das nicht vergeht?

    Dieser Augenblick ist Ewigkeit.

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