Ein etwas anderer Kerker

Ein etwas anderer Kerker

Im alten China, im ersten Jahrhundert, wurde ein Übeltäter ertappt, als er eben den Kaiserpalast ausrauben wollte. Man verurteilte ihn zu zwanzig Tagen Kerker. Der Kerker war jedoch, wie sich zeigte, kein gewöhnliches Gefängnis. Er bestand aus weissen Vierecken, die auf den nackten Boden gemalt waren.
Man führte den Räuber in die Mitte eines der gemalten Vierecke. Nur ein einziger anderer Mensch befand sich dort im angrenzenden Viereck: ein alter Mann mit langem Bart.
Der Räuber fragte: „Was ist denn das für ein Kerker?“
Der alte Mann sagte: „Der schlimmste, den es gibt auf der Welt. Sollte ein Gefangener je seine Linien überschreiten, so kommen alle Dämonen der Hölle und verschlingen ihn.“
Der Räuber war entsetzt und verharrte die vollen zwanzig Tage innerhalb der gemalten Striche. Nach Ablauf der Frist trat der alte Mann aus seinem Viereck heraus.
Der Räuber fragte: „Warum wirst Du nicht von den höllischen Dämonen aufgefressen?“
Der alte Mann antwortete: „Ich bin kein Gefangener. Ich bin der Wärter.“

(aus: Nury Vittachi, Shanghai Dinner)

23 Gedanken zu „Ein etwas anderer Kerker

  1. das gefällt mir. gruselig. interessant. voller interpretationsspielraum…

    danke vielmals für deine lieben worte!
    es war wirklich schön obwohl es durch die hitze sehr sehr anstrengend war und ich von den städten nicht soviel mitnehmen konnte wie ich gerne hätte. das war das jahr davor in der toskana besser. aber es war bestimmt nicht das letzte mal italien (=

    viele liebe grüße,
    paleica

  2. Ist doch immer wieder erstaunlich, wie Menschen reagieren, wenn sie eine an sich sehr klare Erklärung bekommen und nicht mehr in der Lage sind, einmal darüber nachzudenken.
    Gut, der Kleinkriminelle hat selber Schuld, dass er dem Wächter aufgesessen ist.
    Wäre er cleverer gewesen, hätte ergewartet, bis die Füße so schwarz sind, und hätte ein Schachbrett draus machen können. Erinnert mich irgendwie an diese Geschichte mit den Knecht, den 3 Weizenkörnern und seinem Herrn…
    Jedenfalls eine sehr nette kleine Geschichte, die Du hervorgeholt hast.
    Sei lieb gegrüßt und bleibe lieb und treu… :jump:
    Kvelli

  3. Die Geschichte regt zum Nachdenken an, ob wir in der Situation genauso gehandelt hätten. !!!

    Ich wünsche Dir ein wunderschönes Wochenende.

    lg Netty

  4. Verdammt gute Geschichte! Da Sieht man mal wie stark
    die Angst uns beeinflußt. :(

    Wünsche Dir einen guten Start in die Woche.

    Schönen Gruß,

    Ihsan 8)

  5. @Paleica: Oh ja! Das kann man wirklich vielfach interpretieren! Das ist ja das schöne an dieser kleinen Geschichte!
    Und sie ist so weise!

    @MoonWings: Bin immer auf der Suche nach solchen Geschichten!
    Pack die dann auch brav hierein!

    @Kvelli: Hmm, die andere Geschichte kenn ich gar nicht…
    Erzähl sie doch mal!

    @Jerry: ???

    @Ecki: Glauben sie heute noch!

    @Netty: Ja, find ich auch sehr interessant! Komm voll ins philosophieren…

    @Ihsan: Oh, diese verdammte Angst! Sie ist so lähmend! Und hält einen vom Leben ab!

  6. In der Geschichte mit den drei Weizenkörnern und dem Schachbrett geht es darum, dass dieser Knecht abgemacht hatte, dass er jährlich die potentiierte Menge an Körnern vom König bekommt und zwar mit allen Schachfeldern gerechnet. Das hatte der König irgendwie nicht kapiert und war innerhalb weniger Jahre pleite und der Knecht hatte Kohle und Körner bis zum umfallen. So in etwa soll es sich mal vor langer Zeit irgendwo zugetragen haben. Auf jeden Fall haben wir dem Knecht wohl die Potenzrechnung zu verdanken… :grin:
    Einen lieben Gruß potentiiert mit 124 soll auf Dich herniederregnen :D
    Kvelli

  7. Vielen Dank für die Geschichte!
    :O
    Einen lieben Gruß an Dich und eine schöne Woche wünsch!
    :flower:

  8. Hast du nicht vor etwas über einem Jahr geheiratet und ist nicht auch eine Heirat so etwas wie ein weißes Viereck hingemalt auf den Boden der Vorstellungen?

    Als Kinder spielten wir Braut und Bräutigam – wissend, dass wir es nur spielten. Wissen wir das auch noch als Erwachsene, wenn es echt ist, also so richtig doll echt?

  9. Der Kerker sind die Vorstellungen, sonst nichts. „Der Andere“ ist nie der Kerker, es sind immer die eigenen Vorstellungen, nur die.

  10. „Nur Vorstellungen“

    Alles Elend kommt von Vorstellungen.

    Weißt du denn, wer du jenseits aller Vorstellungen bist? Jenseits aller Gedanken?

    „Da kann man ja was machen!“

    Du liebst da Machen, nicht wahr? Noch einmal Buddha: „Es gibt keinen Macher.“ Das ist der Kern aller Aussagen Buddhas. Ohne diese Aussage kannst du den ganzen Buddhismus vergessen.

    (Sag mal, Abraxandria, weißt du vielleicht, wo die Ellie aus der Kulando-Ecke abgeblieben ist? Sorry, dass ich das hier schreibe, aber ich wüsste nicht, wo ich es sonst schreiben könnte. Du kannst es ja wieder löschen.)

  11. So streng verfolge ich den buddhistischen Weg nicht.
    Ich sehe ihn mehr als Orientierungshilfe.
    Ich weiss, wie sehr ich in meinen eigenen Strukturen und in den Gesellschaftsformen, in die ich hineingeboren bin, feststecke.
    Aber ich hole mir gerne mal eine andere Sichtweise.
    Auch Ansätze aus der Pädagogik, der Psychologie und der Philosophie finde ich sehr interessant.
    Ich will auch keinen starren Weg gehen.
    Ich geh meinen Weg.
    Und wenn ich stolper, bin ich dankbar für neue Sichtweisen.

    Ich bin ein Macher, ja, das stimmt wohl.
    Die Sache mit dem WU WEI hab ich nie so recht verstanden…
    Obwohl es sich sehr gut anhört. Mir gefällt Lao-Tse.
    Aber es bleibt Theorie…

    Von Ellie hab ich leider auch nichts mehr gehört. Lange schon nicht. Seit ich damals von kulando wegging. Denke, sie hat ihren Blog beendet.

  12. Wei WU WEI … Tun ohne Tun – bedeutet genau das, was Buddha sagt: Handlungen geschehen, doch es gibt keinen Handelnden.

    Nichts ändert sich. Du tust auch weiterhin, was zu tun ist. Aber das Bewusstsein ändert sich. Du weißt, dass nicht du es bist, die tut, sondern dass es durch dich geschieht.

    Es ist das, was der Sufi-Meister Rumi mit den Worten ausgedrückt hat:

    Glaubst du, dass ich weiß, was ich tue?
    Dass ich auch nur einen Atemzug lang
    oder einen halben mir selbst gehöre?

    So wie eine Feder weiß, was sie schreibt,
    oder der Ball ahnen kann, wo er hinrollen wird.

    Lieben Gruß
    Nitya

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

:cheerleader: :O :flower: :dance: :cat: more »