Rezension – Anna in der Wand von Patrice Kindl

Rezension – Anna in der Wand von Patrice Kindl

Patrice Kindl
Anna in der Wand

Verlag: Deutscher Taschenbuch Verlag
Taschenbuch
Erschienen: September 2000
Seiten: 192
ISBN: 978-3423705967
Empfohlenes Alter: 12 – 14 Jahre

Inhalt:
Anna ist schüchtern, so schüchtern, dass sie nicht mehr das Haus verläßt. Sie ist sogar so schüchtern, dass sie sich vor ihrer Familie in der Wand versteckt. Doch dann bekommt sie eines Tages Liebesbriefe und ihre Welt gerät ins schwanken.

Meine Meinung:
Dieses Buch hat mich tief beeindruckt und seine Spuren bei mir hinterlassen. Es ist kein Buch, das man nach dem Lesen so einfach weglegen kann. Es beschäftigt einen noch einige Zeit später. Das spricht für mich dafür, dass dies ein ganz besonderes Buch ist. Die Geschichte von Anna hat psychologischen Tiefgang, ist teils amüsant, teils makaber, und dabei immer spannend zu lesen. Manchmal war ich einfach nur entsetzt und erschrocken über dieses Mädchen und darüber, wie weit man gehen kann. Aber irgendwie fand ich Anna auch cool.
„Anna in der Wand“ ist eine absurde und fantasievolle Geschichte über das Gefühlsleben eines heranwachsenden Mädchen. Es ist keine leichte Lektüre, sondern eine anspruchsvolle. Einige Passagen mußte ich doppelt lesen, um sie zu verstehen. Manchmal war die Handlung mir zu erdrückend und anstrengend. Aber ich bin froh, dass ich durchgehalten habe, denn dieses Buch belohnt einen fürs Lesen.
Anna erzählt dem Leser ihre Geschichte in der Ich-Form aus der Sicht einer 14-Jährigen. Besonders gefallen hat mir, dass sie den Leser mitunter direkt anspricht.
Anna ist ein sehr schüchternes Mädchen. Ihre Angst vor Fremden macht sie ohnmächtig. Sie möchte am liebsten von den anderen übersehen werden und nicht auffallen. Als sie drei Jahre alt war, verschwand ihr Vater, der auch sehr schüchtern war. Hier besteht eine Paralle zu Anna, denn ihr Vater verschwand in den Bücherregalen der Kongressbibliothek. Nun lebt Anna mit ihren beiden Schwestern und ihrer Mutter allein in einem großen alten Haus. Andrea, ihr ältere Schwester ist ständig gemein zu ihr. Ihre Mutter übersieht sie oft. Nur ihre jüngere Schwester Kirsty hält zu ihr. Anna beneidet die Gegenstände um sie herum, weil diese keine Gefühle haben. Sie fühlt sich mit Gegenständen wohler als mit Menschen, weil diese sie nicht aus der Ruhe bringen.
Es wird für Anna dramatisch, als sie sieben Jahre alt ist und in die Schule soll. Da flüchtet sie in ein von ihr selbstgebautes, geheimes Zimmer hinter der Wand und verschwindet darin für die nächsten Jahre. Aus dem geheimen Zimmer wird eine Parallelwelt quer durch das alte viktorianische Haus mit seinen 22 Zimmern, denn Anna baut an. Hier fühlt sich sie geschützt wie eine Schnecke, stark und sicher. Niemand kann ihr etwas tun, niemand weiß, wo sie ist. Das Haus gibt ihr das, was sie sich von Menschen wünscht. Es hält sie fest im Arm und beurteilt sie nicht. Wie sie sich ihr Zimmer einrichtet, klingt gemütlich. Beinahe beneide ich sie um ihrer Höhle. Ganze sieben Jahre versteckt sie sich in dieser Welt hinter der Wand. Anfangs beobachtet sie noch ihre Familie durch Gucklöchern, doch mit den Jahren kapselt sie sich immer mehr ab und verwahrlost. Sie kommt in die Pubertät, die sie aber nicht begreift und hält sich für krank. Währenddessen bringt Andrea Leben ins Haus. Ständig hängen Gruppen von Jugendlichen dort herum. Andrea ist genau das Gegenteil von Anna, selbstbewußt, laut und beliebt. Die Familie vergißt ihre verlorene Tochter mit der Zeit und fragt sich, ob diese nicht nur eine Einbildung war.
Der Wendepunkt kommt, als Anna eines Tages in ihrer Wand einen Liebesbrief entdeckt. Ihre Scheinwelt beginnt zu bröckeln und sie fängt langsam an, sich wieder der Aussenwelt zu stellen. Der anonyme F. ist schüchtern und pessimistisch wie sie. In ihn findet sie einen Seelenverwandten. Sie lernt die Liebe und ihr Leid kennen, Euphorie, Enttäuschung, Eifersucht, Wut und was so alles dazu gehört. Das alles ist neu für sie. Und es bringt Veränderungen mit sich.
Soweit zur Handlung. Das alles passiert bis Kapitel 6 (von 18). Ab diesem Kapitel wird die Story knisternd spannend. Ab Kapitel 10 konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen, bis ich es durch hatte. Ich wollte unbedingt wissen, was aus den beiden wird. Mit dem Auftauchen F.s wird aus der surrealen Geschichte eine ganz reale. Ab hier liest sich das Buch wie eine gewöhnliche Jugendlektüre. Es ist faszinierend zu verfolgen, wie Anna sich entwickelt, wie sie sich verändert, wie sie ausbricht.
Was die Charaktere dieser Geschichte angeht, mit Anna bin ich schnell warm geworden. Kirsty mochte ich sofort. Andrea blieb mir unsympathisch und bei der Mutter fragte ich mich, warum sie sich nicht mehr um Anna kümmerte. Meine Gefühle F. gegenüber waren etwas gemischt. Seine Wutausbrüche konnte ich nicht ganz tolerieren. Ansonsten war er ganz süß.
Das Cover ist so geheimnisvoll wie die Geschichte. Das passt gut.
Ich finde, dieses Buch wäre auch eine gute Lektüre für den Deutsch- oder auch Englischunterricht. Es läßt sich vielseitig interpretieren und mit anderen Büchern, wie zum Beispiel „Der Fänger im Roggen“ von J. D. Salinger oder „Der Zementgarten“ von Ian McEwan diskutieren. Das zentrale Thema bei „Anna in der Wand“ dreht sich darum, wie sich ein Kind entwickelt, wenn es komplett von der Aussenwelt abgeschnitten ist. Es geht desweiteren um Themen wie Story of Initiation, Pubertät, Gefühle, Angst, Familie, erste Liebe, Isolation, Pessimismus, Individualität und Kommunikation.
Insgesamt betrachtet kann ich nur wiederholen, was ich anfangs schon schrieb, ich bin stark beeindruckt von diesem Buch!
Es hat mich ebenfalls neugierig auf weitere Werke der Autorin gemacht.

Fazit:
Ein tiefgehendes, gehaltvolles, gutes Buch, dem es gelingt, den Leser in den Bann zu ziehen und ihn zu schockieren. Eine spannende und faszinierende Pubertätsgeschichte, die hier und da ins Surreale eintaucht.

5 von 5 Sterne

2 Gedanken zu „Rezension – Anna in der Wand von Patrice Kindl

  1. @Alais:
    Oh schön, Du hast meine Rezi gelesen! :) Das freut mich!
    Ich hab mir mit ihr echt Mühe gegeben.
    Das Buch hat mich aber auch dermaßen in den Bann gezogen! Atemberaubend!
    Erzähl doch mal, wie es Dir gefällt, wenn Du es liest! :freu:
    Ich will jetzt unbedingt noch mehr von der Autorin lesen.

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